Wer sorgt sich um die die Armen?

Der moderne Sozialstaat ist auch aus Luthers Geist erwachsen

Fragt man nach den Zusammenhängen bei der Entstehung der modernen Welt mit konfessionellen Orientierungen, ist die „übliche“ Geschichte schnell erzählt. Da sei die moderne Wirtschaftsweise, der Kapitalismus, im Wesentlichen eine protestantische „Erfindung“ – so wird es seit den großen Texten Max Webers immer wieder kolportiert. Zwar war die Einführung des Kapitalismus bei den reformierten, calvinistischen, dann insbesondere puritanischen Christen im 16./17. Jahrhundert natürlich nicht im Blick. Sie strebten vielmehr nach religiösem Heil und letztendlicher Erlösung von dieser Welt. Aber als nicht intendierte Nebenfolge sprang aus ihren innerweltlichen asketischen Haltungen der Kapitalismus nur umso aggressiver heraus.

Der mittel- und nordeuropäische Sozialstaat hingegen wird in diesem Kontext weniger diskutiert. Wenn überhaupt, dann gilt er meist in vielfacher Hinsicht als eine zwingende Folge aus den wesentlichen Strömungen der katholischen Soziallehre. Als deutscher Beleg hierfür wird gerne die Einführung der generationsvertraglichen Rentenversicherung 1957 erwähnt, die gegen den Widerstand wichtiger Protestanten von katholischen Protagonisten durchgekämpft wurde.

Das abgekürzte, stets umkämpfte Narrativ lautet folglich: „die Wirtschaft“ protestantisch – „das Soziale“ katholisch. Lange Zeit konnte zumindest der erste Teil dieser Aufstellung auch dadurch empirisch belegt werden, dass tatsächlich die großen Unternehmer Protestanten waren. Besonders sinnfällig ist diese Orientierung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zudem darin gewesen, dass seit ihrer Gründung der Wirtschaftsminister fast immer ein Protestant und der Sozialminister ein Katholik gewesen ist. Erst in neuesten Zeiten hat sich dies mit Ursula von der Leyen prominent geändert.

Nun zeigt bereits der Blick auf die politische Landkarte, dass es insbesondere die nordischen Staaten sind, die die weltweit am stärksten ausgebauten Sozialstaaten entwickelt haben. Diese Staaten sind aber konfessionell in einer großen Eindeutigkeit von lutherischen Staatskirchen und zum Teil protestantischen Freikirchen geprägt. Katholische Einflüsse waren und sind schlicht nicht vorhanden. Die staatliche Übernahme der zuvor kirchlich beherrschten Bereiche Bildung, Fürsorge und soziale Sicherheit Ende des 19. Jahrhunderts führte auch nicht zu vehementen Konflikten mit der lutherischen Staatskirche. Besonders kennzeichnend ist zudem, dass in diesen Ländern das typisch katholische Subsidiaritätsprinzip als Delegation von staatlicher Verantwortung an Subkulturen keine Rolle spielt. Es gibt folglich nur die Möglichkeit, hier lutherische Wirkungsgeschichte anzunehmen. Damit aber wäre der Beitrag des Luthertums zur Moderne geradezu spektakulär – und das wäre durchaus etwas Neues.

Denn Max Weber und noch deutlicher Ernst Troeltsch äußerten sich deutlich negativ zum Beitrag des Luthertums für die Moderne: „Die Soziallehren des Luthertums sind, wie die ganze lutherische Religiosität, ein echter Schössling der ganzen, Weltrecht, Besitz, Macht und Gewalt ablehnenden oder indifferenten christlichen Liebesreligion und Liebesmoral, des Monotheismus, der die religiösen Lebenszwecke der gottgeeinigten Persönlichkeit für die einzigen wahren und bleibenden Lebenswerke erklärt und daraus die Liebesverbindung der Menschen in gemeinsamer Betätigung dieser Werke ableitet.“ [1] Alles übrige – soziale und politische – wäre Aufgabe des Staates.

Nun kann man diese Logik aber auch umdrehen: Eben diese Linie der lutherischen Einschärfung der sozialen Verantwortung der Obrigkeit scheint im Blick auf die Genealogie der modernen Sozialstaaten das alles Entscheidende zu sein. Mit ihr kommen noch weitere sozialpolitisch wirksame Grundentscheidungen Luthers zum Tragen: das typische Arbeitsethos und die Berufstheologie demgemäß alle arbeiten sollen und einen Beruf hätten. Im Hintergrund wirkt auch die Vorstellung des Priestertums aller Gläubigen im Sinne eines universalen Gleichheitsethos.

Diese Sicht der Dinge hat insbesondere der wegen seiner Verstrickungen in der Nazizeit umstrittene lutherische Theologe Werner Elert herausgehoben. „Nicht nur Erhaltung der Machtstellung des Staates, nicht nur gesicherte Rechtspflege, sondern ‚gemeine Wohlfahrt‘“ werde von Luther gefordert. Und: „Wer immer den Staat mit Luther als göttliche Stiftung ansieht, womit für die Staatsform noch nichts gesagt ist, wird jedenfalls denen nicht beipflichten, die ihn zur bloßen Funktion der Wirtschaft herabsetzen wollen und sich davon die Lösung der sozialen Fragen versprechen.“ „Der Staat ist für alle seine Glieder in ideeller und materieller Hinsicht verantwortlich, um der Glieder, wie seiner Selbst willen.“ [2]

Von den lutherischen Kirchen war in der Geschichte aufgrund ihrer Theologie tatsächlich über die Jahrhunderte nicht zu erwarten gewesen, dass sie sich sozialpolitisch aktiv in die Bekämpfung sozialer Missstände einmischten. Genau diese Haltung führt jedoch paradoxerweise dazu, dass sie auf der anderen Seite dazu tendieren, diese Aufgaben dem Staat zuzuweisen, der ermahnt wird, betont christliche soziale Zielvorstellungen zu verfolgen. So verlieren die lutherischen Kirchen zwar durch den aufkeimenden Sozialstaat an Einfluss. Aber was die Wirkungsgeschichte der Reformation von 1517 anbetrifft, so kommt Luthers Geist in den entstehenden Sozialstaaten erst richtig zum Ausdruck.

Deutlicher wird, dass der skandinavische Sozialstaat (und abgeschwächt auch der deutsche) in einer säkularisierten Weise Motive eines lutherischen „Sozialismus“, insbesondere in der Form der Notwendigkeit, dass alle arbeiten sollen, aber auch für alle gesorgt wird, aufnimmt. Kennzeichnend für die Entwicklung ist, dass der Sozialstaat erst dann zum vollen Durchbruch kommt, wenn sich die religiösen lutherischen Orientierungen und der Einfluss der Kirche verringern. Aber dies widerspricht nicht einer nachhaltigen Wirkungsgeschichte des Lutherischen. Auf jeden Fall wird einsehbar, dass der skandinavisch- nordeuropäische und mitteleuropäische Sozialstaat in seiner spezifischen Form weder einfach aus reformierten Traditionen noch aus der katholischen Soziallehre noch nur aus dem Gegensatz von Arbeit und Kapital zu erklären ist. Es braucht christliche Grundierung.


  1. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Bd. 2, Tübingen 1912 [ND 1994], S. 585.
  2. Werner Elert, Morphologie des Luthertums, Bd. 2: Soziallehren und Sozialordnungen des Luthertums, München 1931 [ND 1958], S. 410 und 428.
Prof. Dr. Gerhard Wegner
Gerhard Wegner

ist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD (SI) und außerplanmäßiger Professor für praktische Theologie an der Universität Marburg.

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Publikationsdatum dieser Seite: 2023-01-02