Produktives Spannungsverhältnis

Zwei Seiten einer Medaille? Der Staat und der Protestantismus

Die Kirchen der Reformation verdanken sich nicht nur dem theologischen Neuaufbruch der Reformatoren. Ohne den Schutz der zum neuen Glauben übergetretenen Landesherren hätten sich die Ideen der Reformation kaum dauerhaft etablieren können. Die Fürsten garantierten nicht nur den äußeren Schutz der neuen Kirche. Die staatliche Administration gab ihr auch die innere Struktur, die mit der Trennung von den Altgläubigen verloren gegangen war. Kritik an der Vermischung von geistlicher und weltlicher Macht in der römischen Kirche und die eigene Inanspruchnahme der Politik gehen somit Hand in Hand: Während man gegenüber dem Papsttum und den Fürstbischöfen, aber auch gegenüber den Ideen der Täufer, dem radikalen Flügel der Reformation, die Unterscheidung von Religion und Politik betonte, war man in den eigenen Territorien um eine neue Zuordnung von Kirche und Obrigkeit bemüht. Die evangelisch gewordenen Fürsten werden nicht nur in die Pflicht genommen, den Schutz nach außen sicherzustellen. Ihnen werden auch die Kirchenaufsicht, die Verantwortung für Bildung und Erziehung und die evangelische Lebensführung überhaupt übertragen. Das verstand man nicht im modernen Sinne als Ergebnis politischer Willensbildung, von Abstimmungen oder Vertragsschlüssen. Die Reformatoren dachten hier grundlegend anders: Gott hat die Obrigkeit genau zu diesem Zweck eingesetzt. Sie führt das Schwert, um die Ordnung und die rechte Lebensführung zu garantieren. Aus diesen Aufgaben ergeben sich ihre Legitimation wie ihre Grenzen. Denn so sehr von den Christen mit Röm 13,1 Gehorsam gegenüber der Obrigkeit gefordert ist, so sehr gilt auch mit Joh 18,36: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Die Obrigkeit darf sich daher nicht in die Aufgaben des geistlichen Amtes einmischen.

So klar diese Aufgabenteilung auf den ersten Blick aussieht, so problematisch war sie in der Praxis. Denn diese Funktionszuschreibung ist eindeutig aus der Perspektive der Theologie entworfen: Ihre Vertreter bestimmen darüber, welche Aufgaben der Obrigkeit legitimerweise zukommen. Schon bald zeigte sich freilich, dass umgekehrt auch die Obrigkeit die Kirche für ihre Ziele in Dienst zu nehmen suchte. Daraus erwächst ein Spannungsverhältnis, dem von Anbeginn an etwas Unstetes und Fragiles eignet. Das musste aber keineswegs etwas Schlechtes bedeuten, sondern konnte sich durchaus als ein produktives Unruheverhältnis darstellen – insbesondere dann, wenn sich beide Seiten gegenseitig korrigierten, begrenzten und auch zu Weiterentwicklungen anregten. Die Beschränkung und Befriedung von Religionskonflikten durch das Staatskirchen- sowie später das Religionsverfassungsrecht ist dafür ebenso ein Beispiel wie die Zurückweisung staatlicher Absolutheitsansprüche durch die reformatorische Unterscheidung von Heil und Wohl, von geistlicher und weltlicher Macht. Dieses labile Gleichgewicht konnte aber auch leicht aus dem Lot geraten. Die Verführbarkeit durch den Nationalismus und, schlimmer noch, den Nationalsozialismus sind die dunkelsten Kapitel dieser besonderen Beziehung zwischen Kirche und Staat. Dabei ist es für den deutschen lutherischen Protestantismus kennzeichnend, dass er gerade durch seine Kritik an der weltlichen Macht der Kirche einen engen, mitunter zu engen Schulterschluss mit der Politik suchte. Den Eigeninteressen der Politik hatte er dann zu wenig kritisches Potenzial entgegenzusetzen: Als von Gott selbst eingesetzt und ohne die Autorität eines kirchlichen Lehramts als Korrektiv konnte der weltlichen Obrigkeit durchaus zu viel Raum für die Ausgestaltung ihrer Aufgaben zugebilligt werden. Der oft erhobene Vorwurf einer Abständigkeit des Protestantismus gegenüber der Politik, die Kritik, er habe der Politik zu viel Spielraum gelassen, hat hier seine Wurzeln.

Die geschilderte Problematik lässt sich gut an der Verwendung der Drei-Stände-Lehre beobachten, die im Protestantismus lange Zeit als das leitende soziale Ordnungsmodell galt. Das aus der Antike stammende Modell gliederte das Gemeinwesen in die staatliche Verwaltung, die kirchliche Administration sowie den Bereich der häuslichen Wirtschaft – mit dem Ziel, die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Stände in den reformatorischen Kirchen aufzuweisen: Die Amtsträger in der Kirche sind den Laien und der Obrigkeit nicht übergeordnet, sondern gleichberechtigt. Allerdings konnte dasselbe Bild auch eine andere Assoziation nahelegen: den Eindruck, dass die göttliche Ordnung gestört werde, wenn sich ein Stand in die Geschäfte des anderen einmischen wollte, etwa das Bürgertum in die Geschäfte der Politik. Die Theologen wiederum wussten das Schema durchaus in ihrem Sinne zu nutzen: Sie betonten, dass es sich um drei Stände der Kirche Jesu Christi handele und dass ihnen darum eine hervorgehobene Stellung zukomme – eine Autoritätszuschreibung, die wiederum von Seiten der Politik nicht akzeptiert wurde.

„dreischritt: Luther – Bismarck – Hitler?“

Die aus dieser Kontroverse resultierenden Konflikte wurden im deutschen Protestantismus nur zu leicht zu Lasten des Dritten Standes ausgetragen. Eine zweite aus der Antike übernommene Tradition erwies sich dabei für die Beteiligten als hilfreich – aus heutiger Perspektive aber als äußerst problematisch: Machtausübung muss nicht nur auf physischer, sondern auch auf geistiger Stärke beruhen. Das bedeutet: Die Legitimität einer Herrschaft entscheidet sich daran, ob sie die reformatorischen Überzeugungen zum rechten Glauben und rechten Leben teilt und befolgt. Ohne Zweifel hat dies nachhaltig zur Entstehung des verfassungsorientierten und vor allem des wertorientierten Kulturstaates beigetragen. Allerdings hatte diese Auffassung auch zur Folge, dass sich gerade der deutsche lutherische  Protestantismus lange Zeit mit modernen Staatsauffassungen schwertat. Denn zu dieser Vorstellung gehört auch, dass man den Landesherrn, der sich am reformatorischen Glauben orientiert, als Verkörperung von Gottes weltlichem Regiment ansieht, der dem Übel wehrt und die Schwachen schützt. Wie Gott Einer ist, so kann auch hier nur Einer herrschen: der Landesherr im Staat, der Vater in der Familie. Zudem weiß der Landesherr genau, was für die Untertanen am besten ist. Daraus resultiert nicht nur ein theologisches Votum für die Monarchie, sondern auch eine Verklärung paternalistischer Strukturen. Mehr noch: Wo die Obrigkeit als Verkörperung des von Gott angeordneten Regiments angesehen wird, kommt es zu einer deutlichen Abwertung des dritten Standes. Politische Ordnungen, die auf dem Zusammenschluss oder dem Votum der Bürger beruhen wie die Demokratie, mussten in dieser Perspektive als unvereinbar mit dem Willen Gottes gedeutet werden. Die Distanz des Protestantismus zur Demokratie liegt hier begründet, aber auch seine Nähe zum Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: Mit dem Aufkommen des Nationalstaates wandelt sich der Protestantismus zur Nationalreligion. Politische Auseinandersetzungen im Zeitalter des Imperialismus und Nationalismus wurden dadurch religiös aufgeladen – eine Entwicklung, die vor allem den Konflikt mit Frankreich, mit Einschränkungen auch mit England motivierte.

Für den Dreischritt Luther – Bismarck – Hitler, vom französischen Germanisten Edmond Vermeil erstmals 1934 formuliert und dann vielfältig aufgenommen, gab und gibt es also durchaus Anhaltspunkte. Bestimmte Denkfiguren in den reformatorischen, besonders in den lutherischen Kirchen ließen eine Mentalität entstehen, die sie anfällig machten für den Nationalsozialismus. Im Führerprinzip sah man die Rückkehr zum Idealbild der sittlich verantwortlichen Obrigkeit, die die Herrschaft der Masse und damit den Widerstand gegen die gottgegebene Ordnung beendet. Hitler wusste sich diese Mentalität geschickt und skrupellos zunutze zu machen – mit fatalen Konsequenzen auch für den deutschen Protestantismus, wie die Folgezeit zeigte.

Prägend: evangelische Skepsis gegenüber Hierarchien

Dennoch wäre es verkürzt, den Beitrag des Protestantismus zur politischen Kultur in Deutschland auf diese dunkle Seite mit ihren fürchterlichen Folgen zu beschränken. Denn gleichzeitig trugen die bereits genannten anders gerichteten Elemente dazu bei, eine moderne, an den Partizipationsrechten des Einzelnen orientierte Staatsform zu fördern. Dabei bleiben die Kirchen selbst oft in ihrer institutionellen Bindung an den Staat gefangen. Trotzdem befördert die evangelische Lehre eine nachhaltige Veränderung des politischen Denkens in der Moderne. Die Skepsis gegenüber Hierarchien und Autoritäten, die Hochschätzung des Gemeindeideals in manchen Kreisen des Protestantismus, die Betonung des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen sowie von deren unterschiedsloser Sündhaftigkeit leisteten wichtige Beiträge für die Heraufkunft des modernen politischen Bewusstseins. Die Grundrechte, der Verfassungsgedanke, die weltanschauliche Neutralität des Staates und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit lassen sich auch als – vielfach transformierte – Folgerungen reformatorischer Überzeugungen lesen: Jedem Menschen kommt von Gott gleiche Würde zu. Zwischen geistlicher und weltlicher Macht ist strikt zu unterscheiden. Der Mensch ist von sich aus nicht in der Lage, das Gute letztgültig zu erkennen. – Es bedurfte erst des Zusammenbruchs von 1945, damit in Deutschland diese Elemente größere Wirkkraft entfalteten. Erst die Pervertierbarkeit des Obrigkeitsideals machte den Weg frei für eine nachdrückliche Unterstützung des freiheitlichen, an Grund- und Menschenrechte gebundenen Staates der Bundesrepublik.

Alle sollen Mit ins Boot

Bekanntlich dauerte es dennoch bis in die 1980er Jahre, dass die Evangelische Kirche in Deutschland in ihrer Demokratiedenkschrift die Demokratie als Staatsform ausdrücklich befürwortete. Anders als es manche Kritiker unterstellten, liegt der Grund dafür aber nicht in einer heimlichen Sympathie mit nationalsozialistischen oder obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen. Dass ein Neues werden müsse, dass es keine Kontinuität zu den politischen Ideen vor 1945 geben könne, stand allen Beteiligten in der Nachkriegszeit deutlich vor Augen. Allerdings gab es eine gewisse Skepsis, in wieweit diese Auffassung tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt werde. Im Sinne der Verantwortungsübernahme für einen Neuaufbruch fremdelten daher manche in Theologie und Kirchenleitung mit dem Gedanken einer auf der Souveränität des Bürgers gegründeten Staatsordnung. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Protestantismus auf der Grundlage seiner geschilderten Leitüberzeugungen maßgeblichen Anteil an der Mentalitätsveränderung hatte, auf der ein stabiler, demokratischer Staat in Deutschland entsteht – zunächst im Westen, dann immer mehr auch im Osten: Die strikte Säkularisierung der Politik, die Erkenntnis in die Vorläufigkeit menschlicher Erkenntnis und die daraus resultierende Relativierung politischer Anschauungen, die Kompromisse ermöglicht, sowie der Gedanke der Gleichheit aller Menschen sind es, die sich im Raum der evangelischen Kirche, auf Synoden und Kirchentagen, aber auch in den Kreisen der Jugendarbeit und im diakonischen Engagement verbreiten. Dies geschieht zunächst zaghaft, seit den späten 1950er Jahren mit wachsendem Nachdruck und dann, seit den 1970er Jahren mit großer Geschwindigkeit. In ihrer Partizipationskultur, die sich nicht zuletzt dem Mangel an Hauptamtlichen in der Nachkriegszeit verdankt, werden die evangelischen Kirchen zu einer Schule demokratischer Kultur. Das Bewusstsein, selbst entscheiden und selbst Verantwortung übernehmen zu können, sei es – um nur zwei große Kontroversen dieser Zeit zu nennen – im Blick auf die Wiederaufrüstungs- und die Nachrüstungsdebatte oder bei der Elternschaft und Familienplanung – fördert und prägt eine demokratische Kultur, längst bevor sich die EKD offiziell zur Demokratie als der dem Christentum nahestehendsten Staatsform bekennt.

Bis in die 1990er Jahre hinein – und gerade auch bei der friedlichen Revolution beim Zusammenbruch der DDR – bedeutete Engagement für die Demokratie das Engagement für die Freiheit des Einzelnen gegenüber autoritärer Bevormundung. Heute liegen die Herausforderungen auf einem etwas anderen Gebiet: Protestantisches Engagement ist durch das Streben nach umfassender Gleichberechtigung und gesellschaftlicher Inklusion gekennzeichnet. Differenzen, gar Hierarchien oder Ausschlüsse werden mit äußerster Skepsis betrachtet. Im Bemühen aber, möglichst keinen auszugrenzen und allen ihren Platz zu ermöglichen, kommt es zu einer so ungekannten „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas), in der nicht mehr Traditionen, Überzeugungen und vorgegebene Werturteile als Herausforderung und als Bedrohung der eigenen Freiheit wahrgenommen werden, sondern das Fehlen von Orientierungsmaßstäben, die unendlichen Möglichkeiten, aber auch die neuen Zwänge, sich zu entscheiden. Eine evangelische Ethik des Politischen wird die hier drohende neue Paradoxie in den Blick zu nehmen haben: Aus dem Bemühen umfassender Inklusion entsteht ein Kursverlust der Freiheit, der politisches Engagement überflüssig erscheinen und zugleich die Sehnsucht nach Orientierung wachsen lässt. Das darin liegende Bedürfnis gilt es aufzunehmen, ohne die gesellschaftliche Pluralisierung zurückdrehen zu wollen. Ein Spagat, der in den nächsten Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen dürfte.

Prof. dr. Reiner Anselm
Reiner Anselm

ist Professor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen.

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Keiner lebt für sich allein: Fünf Alltagsgeschichten über Zelte in der Kirche, Gemeindefeste und Brokdorf-Heimkehrer. Hier lesen Sie mehr.

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Publikationsdatum dieser Seite: 2023-01-02